märbelschere

Von Frank Milautzcki

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Mein Name ist Lapidarinski. Ich komme zu so vielen Gelegenheiten vor, daß ich mich ständig frage, ob es möglich ist, Stellung zu beziehen, von einem Standpunkt aus, zu einem Thema. Kann meine Sprache etwas treffen, das ich vor mich hin stelle, und bekunden, was da passiert. Wird sie dadurch womöglich selbst zu einer Stelle.

Ich möchte ein Problem erzählen, das mich beschäftigt seit meiner Kindheit. Dort gab es einen denkwürdigen Moment, als wir mit Murmeln spielten. Ich hatte die meine gerade kraftvoll auf die Reise geschickt, vom Standmal aus, als von der Seite unerwartet eine weitere Murmel hinzuschoß und die meine vollkommen aus der ursprünglich eingeschlagenen Bahn schmiss. Sie versprang in eine total andere Richtung und verlangsamte sich, während die hinzugekommene abhob, wie eine Gazelle durch die Luft hüpfte und satt im sandigen Straßenrand zu liegen kam. Der Junge, der meine Kugel abgeschossen hatte, war ein Mädchen und hieß Eva. Wir versuchten die Kollision unserer Murmeln gleich noch einmal, absichtlich, herbeizuführen, schätzten Geschwindigkeiten und Strecken, aber es gelang uns nicht. Zu groß war die Varianz der Kräfte, Richtungen, Tempi. Es kam zu keiner Kollision mehr, es kam zu keiner Stelle.

Anderntags gingen wir daran es noch einmal zu versuchen, malten mit Kreide einen Punkt auf, den wir beide anvisieren konnten: das war die Stelle! Dort sollte es passieren. Aber selbst dann war es noch schwer den Zeitpunkt des Losschießens und die Geschwindigkeit, die man der Murmel mitgab, genauer festzulegen. Eine kitzlige Fühlsache. Es kam darauf an, mit welcher Fingerhaltung man anschnäkte, per Daumenschuss oder Schnippen mit dem Mittelfinger, und an was man dabei dachte. Alles in allem: es gelangen ein paar Treffer und jeder Treffer hatte seine eigene Stelle.

Audio-Exkurs: Chronophage Transgress by Frank Milautzcki

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Die Zeit des charmanten Geschreibsels ist lange vorbei. Wir leben in einer zerbrochenen Zeit, in der unsere Gedanken als Bauschutt herumliegen. Mauern sind zerstört, Wände durch Glas ersetzt, der erleichterte Blick fällt auf eine Welt, die nicht mehr heilig ist. Um ihr nahezukommen, würde es genügen einen Schritt zu wagen, knirschend stellt sich der écrivain auf den Abtritt und sucht nach einem | seinem Experiment. Er weiß eigentlich, daß es sinnlos ist, Worte zielvoll in den Raum zu stellen und Menschen zu einem Blick zu verführen auf irgendwelche Statuen des Geistes hin und dabei eine irgendwie mögliche Objektivierung auszustellen als zu begreifende Gestalt. Es gibt die Verwüstung, das Durchschreiten verheerend erledigter Gebiete, und den kleinen Fund, eine rostige Einladung, ein spiegelndes Stück der Entheiligung. Was am Boden, durcheinander geschmissen, daliegt, kann wieder, darf wieder betreten werden, hat Raum gemacht, wo Kathedralen die Sicht verstellten. Der écrivain ist auf der Suche nach einer neuen Autorität, versucht das Selbst des Gefundenen nicht mit dem Selbst des Finders zu beherrschen. Er ist eigentumslos und ohne Besitz, nicht der Platzkönig und nicht der Throninhaber. Mit den Sätzen ist er der Raumgeber, der Buntmacher und Aufrührer. Mit den Sätzen ist er, nicht über den Sätzen.

Frank Milautzki "Einbeinige Rückkehr"

Frank Milautzki „Einbeinige Rückkehr“

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Möglicherweise gibt es ein Problem.
Das Problem ist unser Unwissen. Es gibt nicht wirklich Orte = festgelegte Punkte im Weltraster von Zeit und Raum. Fragen wir ein Teilchen nach seiner Position ist das ein Moment, in dem Systeme sich überschneiden (und nicht einmal das – sie nähern sich auf Reaktionsdistanz). Ein Moment, in dem Bewegungen miteinander kollidieren und dabei alles durcheinander bringen: Energiehaushalt, Massenhaushalt, Zeit und Raum. Ein Schlamassel. Dabei würden wir uns wünschen: es gibt einen Pflock in der Erde, der sagt, hier beginnt mein Land, deine Grenze. Hier habe ich der Welt ein Stück Verlässlichkeit abgetrotzt. Dieses gehört zu mir, während jenes etwas anderes ist. Abgrenzbarkeit ist die Grundlage von Erkennbarkeit.

Möglicherweise beschweren wir die Welt.
Wir werfen mit kleinen Teilchen nach einem anderen kleinen Teilchen, um zu wissen, wo es ist und wundern uns, wenn es, sobald wir es getroffen haben, betroffen ist (so daß es uns nicht mehr alles von sich sagen kann, weil wir es zumindest um unseren Einwurf hin verrückt haben). Wenn man ein Elektron zwingt, eine wohldefinierte Position einzunehmen, präzise an einem Ort zu sein, verliert man mit einem Schlag die Informationen hinsichtlich seiner Geschwindigkeit. Das muß auch so sein, nämlich um es zu detektieren, muß ich es beeinflussen, z.B. mit einem anderen Teilchen suchen und schon das verändert seine Gegenwart.

Eine Position ist immer erkauft mit Schwere im Sinne einer Nichtbeweglichkeit. Ort ist eine Vokabel der verhinderten Bewegung, des Niederschlags von Materie. Der etablierte Begriff der Unschärfe ist leider sehr irreführend. Scharfe Orte gibt es in der Wirklichkeit nicht. Nichts wird auf einem hypothetischen, weltumspannenden Raster „scharf“ und für immer dort auffindbar – denn nichts steht wirklich still und die absolute Position ist kein physikalisch sinnvoller Begriff. Jedes gewählte Raster bewegt sich mit den Dingen, aus denen sich das Raster erzeugen lässt, mit. Orte sind, wo Dinge schwer geworden sind, dadurch daß sie ihre Bewegung transformiert haben und eine Wirkgeschichte beginnen und fortan in Bezugskoordinaten leben. Die Orte kleben am vermeintlich ruhenden Ding und bewegen sich mit ihm fort.

Mit Lichtgeschwindigkeit bewegende Dinge haben möglicherweise (und dann natürlicherweise) keinen Ort. Erst wenn wir Bewegung transformieren und „verorten“, schaffen wir das Attribut „Ort“. Als Bewegung vorhandene Dinge (komplett in kinetische Energie verstreckte Photonen bspw.) sind keine klassischen Körper, sie werden dazu, wenn man ihre Bewegung beeinflusst und abfragt als Masse.
Es gibt in uns ein Apriori, daß alles, was existiert, sich irgendwie befindet und also auch eine Position hat und es ist uns schwer verständlich, daß etwas, das sich nicht aufhält, solange es sich nicht aufhält, keine Position hat und trotzdem da ist. Wir müssen ein Teilchen schon aufhalten, um es „sehen“ zu können. Das ist das ganze Geheimnis der Unschärfe. Um die Welt zu betrachten, müssen wir sie kontaktieren und allein das verändert sie schon. Eigentlich ein tröstlicher Gedanke: es gibt kein Unbeteiligtsein, aber auch ein Hinweis auf Verantwortung: wir verändern die Welt durch unsere Anwesenheit.

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Foto: Frank Mliautzcki

Die Wissenschaftswelt war über diese sehr lapidare Erkenntnis äußerst erschrocken. Sie hat das Nichtfindenkönnen einer Position auch gleich umgedeutet in ein Feststellen, daß eine Position nicht vorliegt – im Sinne eines Makels. Credo: Wenn wir die Position eines Teilchens nicht messen können, ohne seinen Impuls und seine Bahn zu verändern, können wir auch keine klassische Bahn aufzeichnen, die den Teilchenort x zu jeder Zeit t angibt. Und wenn wir eine solche Bahn nicht durch Messungen belegen können, existiert sie auch nicht.
Zu verstehen wäre, das Teilchen von sich aus keinen und ansonsten erst dann einen Ort haben, wenn man sie kontaktiert. Was nicht daran liegt, das Teilchen kein definiertes, aber eben ein sehr spezielles Dasein führen, sondern daran, daß unsere Definitionen (Ist ein Ort erst dann ein Ort, wenn wir ihn messen und belegen können? Hängt Existenz davon ab, daß wir sie „feststellen“ können?) nicht auf sie anwendbar sind. Das Nicht-Dasein am Ort lichtschneller Weltelemente bedeutet keinen Mangel, sondern entspricht einem simplen Fakt der Welt. Orte gibt es nur, wo es Dinge gibt, die ihr eigentlich kinetisches Dasein in das Beziehungsangebot einer Masse kleiden und dann anders als lichtschnell geschehen, vor Ort.

Möglicherweise sind wir das Problem.
Wir möchten von der Welt, daß alles seinen Platz hat. Wir wollen, daß es ein Weltraster gibt, das sich unter dem Einfluß der Masse erkennbar strukturiert. Das Raster soll auch da sein, wenn nichts da ist. Alle Plätze und Orte sind auf ihm vorvermerkt, auch wenn ihm die Materie fehlen würde. Das ist die Idee. Die Raumzeit ist ein geometrischer Gott, eine Entität umspannender noch als das Existierende selbst. In ihr spielen sich die physikalischen Phänomene (Energie, Bewegungsgröße, Drehimplus, Masse, Trägheit) ab. Sie machen Theater. Auch wenn alles sich bewegt, unser Planet, unser Sonnensystem, unsere Galaxis, unsere Milchstraße und unser Universum sich in tausenderlei Beziehungsmustern zueinander verändern, durcheinander fallend drehen, dabei kein Oben und Unten kennen, kein Links und kein Rechts, sich alle Bezugsmöglichkeiten ständig verzerren und alle Positionsangaben stets relativ sind – unser mathematisches Konstrukt Raumzeit besteht darauf als physikalisches Ding vorhanden zu sein und sich unter dem Einfluß von Materie so zu verformen, daß Schwere in ihr abgebildet wird. Die Raumzeit ist unser Netz, das die Welt für uns zusammenhält. Es kann sich zwar verbiegen und verformen, aber es läßt nichts aus.

Audio-Exkurs: Russel Sqare Station by Frank Milautzcki

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Ich finde diese Vorstellung falsch. Es hilft uns bei der mathematischen Beschreibung, aber ansonsten hat es keine physikalische Realität und zeugt von anthropozentrischer Sicht.

Ich habe meine Gedanken dazu hier hin geschrieben (Sapere aude!), weil ich es nützlich finde, mit einem gewissen (keinem stillschweigend apriorischen, der tatsächlich doch a posteriori bestellt ist) Hintergrund darüber nachzudenken, warum wir Plätze auszumachen und zu erobern versuchen: weil es sie eigentlich nicht gibt.

Weil Plätze etwas Vorläufiges, Flüchtiges, Verschwindendes sind. Ein Beziehungsprodukt, das sich mit den Beziehungen verändert. Man kann sie eine Weile lang haben (und diese Weile behauptet und übertreibt sich im Gigantismus der Kathedralen und Paläste), aber die Beziehungen verändern sich sekündlich, unmerklich zunächst, aber irgendwann in der Summe da. Der Nachthimmel überfließt uns, die Sonne wandert über uns hinweg, Küsten verändern sich (nicht nur mit den Gezeiten), Wiesen verwuchern, die Kontinente verdriften, die Welt ist kein statisches Objekt, an ihr rütteln Gewalten. Aber für einen Moment, für den einen Moment der Dauer, gibt es einen mittelbaren Platz, der stabil genug dieser eine Platz ist, um uns zu ermöglichen wir selbst und vor Ort zu sein. Darauf kommt es an. Es gibt einen Boden, auf dem sich laufen läßt, die Luft ist zuverlässig da. Kein Paralleluniversum durchkreuzt unseren Moment und belegt unseren Platz als gleichzeitiges Doppel, so daß dort, wo unsere Gehirnzellen angeregt neue Theorien erfinden, nicht plötzlich die Sonne eines der Multiversen, über welche Physiker aktuell spekulieren, durchhuscht und alles versengt. Der Platz dauert und ist, in unserer Lesart, fest. Es gibt ihn nur einmal. An ihn ist scheinbar die Materie gebunden (und es ist genau anders herum: er ist direkt an die Materie gebunden, es gibt ihn, weil die Materie dort ist).

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Das Erobern von Plätzen ist ein Claimen von Raum. Eine Pyramide ist eine Sendeantenne, ein ins Gigantische übertriebener Ausgangspunkt für Botschaften der Ewigkeitseinholung. Orte sind Brücken, an denen die Hierwelt hinüberreicht ins Jenseitige, also Überwinder des Vakuums und der Zeit. Je machtvoller die Brücke konzipiert wurde, um so nachhaltiger ist ihr Bestand. Und darum geht’s: Bestehen, was sich stets verändert. Die Füße so setzen, daß wir nicht fortgerissen werden. Steine aufeinander legen, um die Dauer eines Ortes zu zementieren. Wenn wir ein Gebäude errichten, dokumentieren wir ein besonderes Verstehen von Materialität, Zeit und Raum. Während dem Vogel das Nest in einer stetig wachsenden Astgabel ausreichend stabil für das anfallende Brutgeschäft ist, muß das menschliche Nest eine künstliche Höhle von jahrelangem Bestand sein.

Wir nutzen Materialität Stein auf Stein. Und erzeugen damit etwas, das mehr ist als Stein auf Stein. Dazwischen liegt der Mörtel des Verstehens. Aus dem Verstehen des Dings konstruieren wir eine Anwendung, eine Umweltung. Wir behoheiten die Sache und geben ihr unseren Zweck. Wir bauen unsere eigene Welt mit den Eigenheiten, die wir der Welt abhorchen.

Orte werden zu definierten Bezugspunkten in einem weltumspannenden Netz, überschirmt von Satellitenbahnen und lichtschnellen Reichweiten. „Im Verhältnis zum Ort wäre der Raum ein Wort“ schreibt Michel de Certeau (1988). Er meint damit den Zuwachs an semantischem Potential, je mehr Dinge einander begegnen, um so mehr erzeugt die Koexistenz Sinn und mögliches neues Vokabular. Das globale Weltnetz ist also das Gesagte, der Text den wir dem Planeten auf die Haut diktieren. Aber gleichzeitig auch Lektüre, denn die Raumnachbarn, die als biologische Systeme in eigene Welten verstrickt sind und der unseren als verortete Knotenpunkte herhalten, Pflanzen, Tiere, Ökosysteme, reagieren auf die Verzerrung des Gesamten, auf die gnadenlose Schwere des Menschen, mit dem allmählichen Verlust ihrer eigenen Verwurzelung. Alles fließt zum Totalverbraucher hin, dem schwarzen Loch Mensch. Das Netz saugt die Orte aus und verwandelt sie in Nicht-Orte, in den globalen Kanälen zerfließt die Verortung der Welt zugunsten der großen Mobilität, der Überhöhlung der Welt, unter dem Dach der Technik zergeht das jahrzehntausendalte Eis der Plätze und überflutet haltlos, was bislang irdische Dauer war.

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Frank Milautzki „Adler kommt“

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Ich liebe Ruinen. Dort gibt es Bruchstücke und ein anderes Finden.

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Lost Places – Verschlossene Türen und Stacheldraht konnten nie dauerhaft verhindern, daß urbane Subkulturen sich ungenutzte Räume erobern, und daß der kreative Teil derer, die sich herumtreiben in den aufgegebenen Bereichen der Welt, in den Ruinen unbelästigt Galerien ihrer Streetart und Undergroundkunst ablegen. Hier ist Anarchie. Hier sagt niemand mehr was, außer der Natur, die hereinkriecht mit Winden und Efeu. Das fasziniert uns. Hier läßt sich alles neu beginnen, weil alles zu Ende ist. Im Internet findet man seitenweise Fotografien, in denen zerstörte Fabrikhallen, verlassene städtische Bauwerke und anderes Niemandsland als Motiv oder als Hintergrund die tragende Rolle spielen.

Das mag daran liegen, daß eine Ruine nicht einfach nicht mehr das ist, was es einmal war, sondern genau dadurch schon wieder neues Ungewesenes enthält. Stendhal hat seinerzeit gesagt, daß das Colosseum „heute, wo es in Trümmer fällt …vielleicht schöner ist, als in den Tagen seines höchsten Glanzes. Damals war es nur ein Theater …“. Solange ein Bau seiner Nutzung dient, ist er zweckbelegt und eingezurrt in unabänderliche Prozesse – gibt man ihn auf, befreit man ihn und entläßt ihn in Möglichkeitsräume, die in jedem Besucher individuell aufscheinen. Das Spiel von Geschichte und möglicher Zukunft ist genau das Spiel, das uns Menschen aus den Weltbegegnungen und der Natur vertraut ist: da gibt es etwas zu ergründen und hält gleichzeitig eine Möglichkeit bereit – woher kommt dieser scharfe Splitter und was kann ich mit ihm tun. Die Vision ist unsere Spinne im Kopf, die ihre Drüsen anschmeißt und leere Räume abläuft.

Solange ein Gebäude steht, ist es ein Monument des Willens. Sobald aber „diese einzigartige Balance zwischen der mechanischen, lastenden, dem Druck passiv widerstrebenden Materie und der formenden, aufwärts drängenden Geistigkeit“ eines Gebäudes zerbricht, so schreibt Georg Simmel 1919 „bedeutet dies nichts anderes, als daß die bloß natürlichen Kräfte über das Menschenwerk Herr zu werden beginnen: die Gleichung zwischen Natur und Geist, die das Bauwerk darstellte, verschiebt sich zugunsten der Natur. Diese Verschiebung schlägt in eine kosmische Tragik aus, die für unser Empfinden jede Ruine in den Schatten der Wehmut rückt.“ Dennoch enthält die Ruine als starker emotionaler Magnet ein weites Feld der Friedlichkeit. Hier lässt man zu. Der Mensch ist passiv, lässt zerfallen, die Natur darf zurückholen.

Zu meinen Lieblingsbüchern der letzten Jahre gehört ein Bildband von Marc Mielzarjewicz, in dem er „Verborgene Welten“ in und um Leipzig vorstellt: Lost Places. Jahrhundertwende-Zweckgebäude mit Jugendstilformen und fleckigen Ziegelmauern, Getreidespeicher, Stadtbad, Proviantamt mit Heeresbäckerei. Farbe, die abblättert, Staub der aufliegt, eine Puppe, die in einem offenen Schaltschrank eingedrückt ist, wie in ein Puppenhaus. Hallen mit leergeräumten Einbaumöbel, alten Industriemaschinen, kuriose Heizkörper, elektrische Schaltreihen und Sicherungsbatterien, magere Lampenskelette an sich häutenden Decken, Ventilationen und Abzugshauben, Fahrstühle und Rohrleitungen, Stahlträger, die mit ihrem Nietenspiel an Metallbaukästen erinnern, zentimeterdickes Grau über säurefesten Achteckfliesen. Ornamentale Tapeten und Graffiti auf zerdepperten Stehklos. Auf hundertfach verschiedene Weise durchschnittener Raum, geöffneter, beengter Raum, von Glassplittern beworfener und von Lichthöfen überwachsener Raum. Eine andere Welt in schwarzweiß. Das zerschmissene Labor wird zur Galerie und die nutzlose Apparatur zum objet trouvé. Marc Mielzarjewicz lässt sich ein. Man spürt in jedem einzelnen Bild das Signal, das er empfangen haben muß: der seltsame Winkel, das stark unterteilte Licht, die architektonische Symmetrie, nah dran, unausweichlich. So paradox es klingt: lebendige Momente. Das Entstehen von Idee und Ordnung (was ein strukturiertes Zulassen von Unordnung sein kann). Bezeugte Ungewißheit und anarchische Gewißheit – der Verfall ist genauso da, wie die Geburt und die Befreiung, die Möglichkeit zu Neuem. So sind die Fotos keine Erinnerungsprothesen sondern angeschaltete Mikroskope. Die besondere Ästhetik der Ruine ist das enigmatische Überkreuztsein der Zeit. Mit einem Schuß durchschneidet die Kamera das hybride Geschehen und zeichnet den einen von tausend möglichen Querschnitten auf, je nach Standort. Wenn man richtig steht und seinen Standpunkt lebt, gibt es gute Bilder.

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Die Welt ist ein Ereignis. Mit diesem Satz verrate ich nicht viel Neues, aber bezeuge immerhin, daß es wichtig ist, wer wann wo vorhanden ist, um das daraufhin Passierende zu erzeugen. Örtlichkeit ist eine Grunderfahrung, auch wenn wir ihren Geltungsbereich nicht abschätzen können, die weitreichende Schwerkraft der Handlungsmasse, die Fernwirkung der Aktion. Örtlichkeit hat zur Bedingung die Anwesenheit (die kann auch per Befehlskette zum Geschehen finden kann, per Mausklick, Lichtschalter, Telefonat – die Videokonferenz ist ein Ort). Anwesend ist, was sein Wesentliches beiträgt, sein Anliegen, sein Statement, seine Meinung. Seine Dekrete und Gesetze, seine Schleusentechnik und seinen Script. Der Ort ist die versammelte Bagage der Informationsträger, die Möglichkeitslistung des Moments, die sich genau dann aufschreibt, sobald Informationen fließen. Das alles braucht seine Zeit. Also hat der Ort seine eigene. Womöglich eine andere als der Ort, der sich ergibt, wenn man mehrere Orte zusammenschaltet. Ausdehnung und Beschaffenheit formatieren, Geschwindigkeiten takten, Orte wachsen, Beziehungen bilden sich ab, Galaxien fallen durcheinander, wohin? Eine Frage, die keinen Sinn macht, wenn man sich etwas anderes vorzustellen versucht als: in den gemeinsamen Ort Universum.

Audio-Exkurs: Robert’s Dream by Frank Milautzcki

Anmerkungen
Beitragsbild: Frank Milautzcki
Geschrieben im Februar 2014

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